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Freitag, 22. Juli 2022

Retro G'schichtn: der Trip

Unser Bub hat uns offenbart, dass er plant, mit einem Komilitonen nach Wacken zu fahren. Das ist jetzt nicht primär die Art von Nachricht, die Eltern in Verzücken versetzen. Das erste Festival, und dann gleich in die Vollen! Wacken! Himmel!

Ich bin zwiegespalten. Die Mutti in mir schreit entsetzt auf. Der Bub, alleine, in einem Heer von besoffenen Rockern, die Pogotanzend alles niederwalzen! Bier von allen Seiten! In einem Zeit inmitten der Chaoten schlafen! 2 Tage lang! Und was ist mit den Wertsachen? Was ist mit der Lautstärke? Der Bub war immer empfindlich lauter Musik gegenüber. Aber er mag Slipknot, das passt nicht wirklich zusammen. Und das Ohr? Was, wenn wieder ein Hörsturz kommt? Na?

Und sofort googeln der Mann und ich nach diebstahlsicheren, wasserdichten und einigermaßen lässigen Bauch / Gürteltaschen. Wir ringen ihm das Versprechen ab, bei Ohrproblemen sofort ins Notarztzelt zu gehen.
Ausreden können wir es ihm nicht, es ist fast fertig geplant und er ist wild entschlossen. Und er ist 20 Jahre alt. Da hat die Mutti nichts mehr zu melden, außer mit ihren Befürchtungen zu nerven.

Wäre ich in seinem Alter, würde ich jubeln! Was für ein Abenteuer! Festivals sind ja generell eine tolle Sache und Wacken ist die allerhärteste Mutprobe! Das packt der schon, der ist ja nicht blöd. Er soll Erfahrungen sammeln. Hab ich ja auch.

 


Jo das hab ich. Da fällt mir ein, wie ich mit meiner Freundin Kerstin nach London gereist bin. Mit dem Rucksack. In die Jugendherberge. Mit 19. Mit wenig Geld und ohne Handy. Der erste Trip ohne Eltern, ohne Betreuer und ohne jemand Vernünftiges dabei. Meine Mama muss tausend Tode gestorben sein! Weisst du, wann mir das bewusst geworden ist? Vor ein paar Jahren erst. Es war gefährlich, es war leichtsinnig und es war total aufregend! Allein die Zugfahrt!

Irgendwo zwischen Köln und Brüssel mussten wir den Zug verlassen, weil bei der Bahn gestreikt wurde. Es war früher Abend und der Ersatzzug fuhr erst am nächsten Tag früh um 6. Also mussten wir uns die Nacht um die Ohren schlagen und jemanden finden, bei dem wir übernachten könnten. Haben wir auch, freundliche junge Leute aus einer WG, die uns ihren Küchenboden zur Verfügung gestellt haben. Es war eine große, alte Küche mit Parkettboden und wir hatten Isomatten und Schlafsäcke. Geweckt wurden wir von einem Bernhardiner, der uns interessant fand.

In London selber blieben wir nur 2 Nächte in der Jugendherberge. Schön ist was anderes. 1990 waren die Räume, die Betten und die Waschräume original aus den 60ern. Sehr abgenutzt und alt, quietschende Stahlrohr - Stockbetten in 10-Bett-Zimmern. Und das Frühstück war – englisch. Himmel!

Die Tage waren berauschend, London ist toll! Wir haben uns an den Brunnen bei Piccadilly Circus gesetzt und das Treiben beobachtet. Da waren viele Punks, die allesamt unheimlich freundlich und lustig waren. Wir haben Big Ben gesehen, haben Fish & Chips probiert, sind im Doppeldecker Bus quer durch die Stadt gefahren und haben die Londoner U-Bahn erleben dürfen! Abends wurden wir erschlagen vom Angebot aus echt coolen Clubs und Bars, das war herrlich!




Spät Nachts saßen Kerstin und ich in einem Bus, in dem außer uns nur noch drei seltsam aussehende Menschen saßen. Ich hab da meine ersten Drag Queens kennengelernt! Sie haben uns was vorgesungen und wollten, dass wir was typisch deutsches singen. Zu meiner Schande – uns ist einfach nichts anderes eingefallen und gaben das "Herzilein" von den Wildecker Herzbuben zum Besten. Wie peinlich. Aber die drei fanden es super! Wir haben bei denen echten englischen Tee mit Milch bekommen (örks!) und schliefen auf dem Sofa.

Passiert ist uns nichts. Die ganze Zeit nicht. Aber es war uns auch nicht bewusst, wie gefährlich das alles war. Als 19jährige denkst du nicht an Gefahr, da denkst du an Spaß und Abenteuer! Und dieser London-Trip war ein einziges Abenteuer! Ich hab leider viel vergessen und auch fast keine Fotos mehr, aber die paar Gedankenfetzen, die noch da sind, die mag ich!

Der Punk, der uns seine Haare anfassen ließ und versucht hat, uns irisch beizubringen. Die Oma, die so freundlich zu uns war und den Weg zur U-Bahn mit uns gelaufen ist. Die Ladys, mit denen wir im Bus deutsche Volkslieder gesungen haben. Der Typ, der vor seiner Villa den Rasen gegossen und uns voller Stolz seine Deutschkenntnisse präsentiert hat (Dankeschön Bitteschön auf Wiedersehen) oder die vielen Kinder, die im Zug zu uns gekommen sind. Wir hatten keine Plätze und saßen auf dem Boden in der Gepäckablage. Da kamen ein paar Kiddies zu uns, denen langweilig war und wir erzählten Geschichten aus Begriffen, die uns die Kinder zuwarfen.

 

Bei all den Erinnerungen muss ich mich zwingen, den Bub seine eigenen Erfahrungen machen zu lassen. Meine Mom konnte mich auch nicht von all dem abhalten, was ich so veranstaltet hab. Es ist gut, mal auf sich allein gestellt zu sein, alles allein zu entscheiden und zu überlegen. Auch wenn andere sich dann Sorgen machen.

Sorry Mama ! 💗




 

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